Dienstag, 13. Januar 2015

Stummer Hilferuf: Selbstverletzung bei Jugendlichen

Etwa jeder zwölfte Junge verletzt sich selbst – Tendenz steigend.

"Noch immer gilt vor allem in Deutschland die Annahme: Jungen verletzen sich nicht selbst, sondern andere", sagt der Sozialwissenschaftler Harry Friebel. Er versucht seit sieben Jahren in Fachkreisen auf das Thema und die Betroffenen aufmerksam zu machen. Das Gesundheitssystem sei blind für das Problem, weil Ärzte und Therapeuten zu stark an Rollenklischees festhielten. Ein Psychiater habe kürzlich auf einem Kongress zu ihm gesagt: "Wenn er sich ritzt, dann ist es kein Junge mehr." Zugleich verheimlichten die Jungen ihr Leid, weil auch sie die gängigen Rollenvorstellungen verinnerlicht hätten, meint Friebel. "Sich selbst zum Opfer zu machen, gilt als unmännlich - unter Ärzten wie Betroffenen."

In einer Befragung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg mit mehr als 1400 Oberschülern in Deutschland im Jahr 2011 berichtete etwa jeder zwölfte Junge, sich in seinem Leben schon mindestens dreimal selbst verletzt zu haben. Umgerechnet bedeutet das: In einer 10. Klasse mit 25 bis 30 Schülern sitzen im Durchschnitt zwei bis drei Jungen, die sich mehrfach Schnittwunden, Verbrennungen oder Verletzungen durch Schläge gegen feste Gegenstände oder auch Bisse zugefügt haben. Mädchen verletzen sich der Heidelberger Erhebung zufolge etwa doppelt so häufig selbst. Das Risiko der Selbstverletzung sei zudem höher, wenn Jugendliche Drogen oder Alkohol konsumieren, sexuell oder körperlich missbraucht wurden oder Probleme mit ihrem Selbstwert haben.

Nach Aussage der Experten habe sich die Zahl der Jungen und jungen Männer, die sich selbst wehtäten, seit den Achtzigerjahren verdoppelt.

"Wenn sich ein Jugendlicher regelmäßig selbst verletzt, ist das ein klares Warnsignal", sagt auch die Psychotherapeutin Sonia Ludewig von der Vorwerker Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie in Lübeck. "Das gängige Therapieprogramm für die psychischen Erkrankungen, die wir auf der Station behandeln, war vor allem auf Mädchen und Frauen ausgerichtet. Wir haben es den Bedürfnissen der Jungen angepasst", sagt Ludewig, die diese Station leitet.

Die Hälfte der Mitarbeiter sind zudem Männer. "Die Jungen brauchen dieses Modell von Männern, die es schaffen Gefühle zu zeigen, ohne das sie sich als Weichei fühlen", sagt Ludewig. Auch müssten die Therapieinhalte viel aktiver sein: weniger sprechen, mehr tun. Daher treiben die Jungen viel Sport und sind oft draußen. "Wichtig ist es, den Jungen Grenzen zu setzen und sie zugleich wertzuschätzen und Verständnis zu zeigen", sagt die Psychologin. "All das brauchen die Mädchen auch. Die Jungen aber noch viel mehr."

Mit Informationen aus Spiegel online