Montag, 9. September 2013

Zwangsprostitution: In Deutschland blüht der Menschenhandel

Nach Schätzungen der OSZE bringen Menschenhändler jedes Jahr allein zwischen 120.000 und 500.000 Frauen und Kinder von Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa und zwingen sie oft zur Prostitution. Europa verstärkt den Kampf gegen sexuelle Ausbeutung, doch die Täter finden in Deutschland einen lukrativen Markt.

Das Bundeskriminalamt (BKA) führt für das Jahr 2011 offiziell aber nur 640 Opfer, die meisten sind jünger als 21 Jahre. Fachleute gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl weit höher ist. Die meisten Fälle werden nur deshalb nicht bekannt, weil die Opfer Angst haben, sich an die Polizei zu wenden. Angst vor den Menschenhändlern.

Während die Nachbarn ihre Gesetze verschärfen, hat es die Bundesregierung bisher weder geschafft, EU-Vorgaben konsequent umzusetzen, noch ihr Prostitutionsgesetz aus dem Jahr 2002 nachzubessern. An diesem Freitag läuft eine zweijährige Frist ab, Deutschland müsste eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Menschenhandel und zum Schutz der Opfer umsetzen. Berlin aber wird es nicht schaffen, die entscheidenden Ministerien – Justiz, Inneres und Familie – sind in der Frage zerstritten.

Entsprechend harsch ist die Kritik aus Brüssel, selbst in den eigenen Reihen. "Wir setzen teilweise Bestimmungen aus Brüssel zu Duschköpfen in Deutschland bis ins kleinste Detail um – und bei so etwas Wichtigem wie der organisierten Kriminalität wird dann nicht kooperiert", sagt die CSU-Europaabgeordnete Angelika Niebler. "Deutschland pocht in der Regel immer auf die Einhaltung der Verträge. Es kann nicht sein, dass man sich dann selbst bei einem so wichtigen Thema nicht daran hält."

Tatsache ist aber auch, dass es bei diesem Thema kein Vorzeigeland gibt. Es sind eher einzelne Gesetze oder Regelungen, die Experten für nachahmenswert halten. Wenn es etwa um das Aufenthaltsrecht für die Opfer geht, verweisen sie oft auf Italien. Dort erhalten Opfer ein Bleiberecht für sechs Monate – unabhängig davon, ob sie vor Gericht gegen die Täter aussagen. In Deutschland ist das derzeit die Bedingung. In Italien reicht es, wenn Betroffene bei einer anerkannten spezialisierten NGO über die Tat berichten, die die Polizei informiert.
Schweden, Frankreich und Holland stehen beispielhaft dafür, wie unterschiedlich die Länder der EU den Problemen von Menschenhandel begegnen, vor allem der sexuellen Ausbeutung.

Die Regierung in Schweden hat 1999 ein Gesetzespaket gegen Gewalt gegenüber Frauen beschlossen. Kern ist, dass Männer und Frauen bestraft werden können, sobald sie für Sex bezahlen. Zuhälterei ist verboten. Prostitution ist erlaubt. Allerdings setzt Schweden darauf, sie nach und nach abzuschaffen. Freier, die ertappt werden, erwartet eine Geldbuße von bis zu 3000 Euro. Wiederholungstäter müssen mit bis zu einem Jahr Gefängnis rechnen.

Ungeachtet aller Kritik haben sich Norwegen und Island die Schweden zum Vorbild genommen – und ähnliche Gesetze erlassen. Eine ganze Reihe weiterer Länder diskutiert ernsthaft darüber, es ihnen nachzutun: Irland, Nordirland, Schottland, Dänemark, Finnland, Belgien, Lettland – und Frankreich.

1946 wurden in Frankreich per Gesetz alle Bordelle geschlossen. Freudenhäuser und jegliche Form der Zuhälterei sind seitdem verboten. Jeder, der vom Geschäft der Frau profitiert und von ihrer Arbeit weiß, kann angeklagt werden, auch ein Lebenspartner. Menschenhandelsdelikte zur sexuellen Ausbeutung werden vor allem über die Gesetze gegen Zuhälterei belangt. Um Menschenhändlern direkt auf die Spur zu kommen, versuchen die Franzosen, kriminelle Geldströme zurückzuverfolgen.

Daraufhin ist das Rotlichtmilieu in städtische Randgebiete gezogen und wird vor allem von kriminellen Netzwerken gelenkt - die öffentlichen und politischen Maßnahmen wirken kaum. Die Staatspolizei hat inzwischen ein "Zentrales Büro zur Unterdrückung des Menschenhandels" eingerichtet.

Die Niederlande gehen – wie Deutschland – davon aus, dass Frauen und Männer freiwillig als Prostituierte arbeiten. Prostitution ist erlaubt, wird aber reguliert. Der liberale Weg hat sich nicht bewährt. Die wenigsten Frauen sind angestellt. Und es gibt eine alarmierende Entwicklung: Die NGO Comensha, die eng mit der Polizei zusammenarbeitet, verzeichnete für das Jahr 2011 mehr als 1200 wahrscheinliche Fälle von Menschenhandel – ein Anstieg um 25 Prozent, binnen eines Jahres.

Das große Problem: Es gibt keine einheitlichen Regelungen. Jede Stadt kann selbst entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen sie Lizenzen für ein Bordell vergeben. Zuhälter und Menschenhändler betreiben ihre Geschäfte dort, wo die Regeln und Kontrollen nachlässig sind.

Die Regierung hat einen Gesetzesrahmen erarbeitet, der im ganzen Land gelten soll: Anbieter von sexuellen Leistungen brauchen eine Genehmigung. Prostituierte sollen eine feste Adresse und eine Telefonnummer haben. Sie sollen sich registrieren lassen mit Pass, Foto, Registrierungsnummer. Die Polizei soll strenger kontrollieren, ob sie Indizien für Zwang oder Menschenhandel feststellen können.

Mit Material aus: „Die Welt“ vom 05.04.2013