Montag, 8. Juli 2013

Warum unsere Kinder nicht mehr richtig schreiben lernen

Nach der Methode – Schreib wie du sprichst – sollen heute viele Kinder die richtige Rechtschreibung lernen.

Der Grundschulexperte Günter Jansen, 73, erklärt warum die reformpädagogischen Methoden nicht funktionieren und welche Kinder darunter besonders leiden.
Sehr viele Grundschüler in Deutschland lernen inzwischen mit Methoden und Lehrgängen schreiben, die Elemente des Konzepts "Lesen durch Schreiben" des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen übernommen haben. Das sind zum Beispiel die "Rechtschreibwerkstatt", "Tinto", die "ABC-Lernlandschaft" oder "Konfetti".

Doch der frühere Grundschullehrer und Fachleiter aus Dahlem in der Eifel sieht das anders: „Die Grundannahmen dieser Methoden sind falsch“, sagt Jansen.

Reichen ging davon aus, dass Kinder sich die Schriftsprache selbst erarbeiten könnten. Dafür sollen sie zunächst so schreiben, wie sie sprechen. Ein Unding! Zahllose Fehlschreibungen - die von Lehrern über ein oder sogar drei Jahre hinweg nicht oder kaum korrigiert werden - sind vorprogrammiert. Die Kinder dann in der zweiten oder dritten Klasse wieder umzupolen und ihnen statt der antrainierten chaotischen Rechtschreibung die richtigen Schreibweisen beizubringen, ist meist unglaublich schwer. Hirnforscher wissen: Richtig schreiben lernen wir ähnlich wie Geige spielen oder Hochsprung. Man weiß: Wenn sich dabei gewisse falsche Routinen einmal entwickelt haben, sind sie kaum wieder abzutrainieren.

Auch die Arbeit mit der sogenannten Anlauttabelle kann nicht funktionieren. Darin ist jedem Buchstaben ein Tier oder Gegenstand zugeordnet, der mit diesem Buchstaben beginnt. Mit Hilfe dieser Bildchen sollen sich die Kinder die Buchstaben für die Wörter, die sie schreiben wollen, selbst zusammensuchen. Wenn sie zum Beispiel "Mama" schreiben wollen, finden sie das "M" neben der Maus. Im Deutschen soll es etwa 4000 unterschiedliche Laute geben, die alle mit den Buchstaben des Alphabets in Schrift umgesetzt werden müssen. Das sollte man selber einmal versuchen. Mit der Anlauttabelle kann nur der effektiv arbeiten, der bereits richtig schreiben kann, ist die Meinung des Experten.

Ein weiteres gemeinsames Merkmal vieler der von Jürgen Reichen inspirierten Verfahren ist, dass sich jedes Kind aussuchen darf, in welcher Reihenfolge es die Buchstaben lernen will.

Auch diese Methode hält Jansen für völligen Unsinn, weil es strategisch wichtige und weniger wichtige Buchstaben gibt.

Allen diesen Methoden gemeinsam ist eine maßlose Überschätzung der Kinder! Gerade in den ersten Schuljahren sind Kinder noch auf ein hohes Maß an Unterrichtsführung durch den Lehrer angewiesen, meint der Experte.

Warum sich die von Reichen inspirierten Methoden dann überhaupt in Deutschland verbreiten konnten, sieht Jansen so, dass sie einfach perfekt in das reformpädagogische Klima der Zeit passt. Das sogenannte Freie Schreiben, bei dem die Kinder ohne Beachtung der Rechtschreibung ganz kreativ ihre Gedanken zu Papier bringen sollten, gab es ja schon in der Reformpädagogik der zwanziger Jahre. Allerdings hat man damals sehr bald gemerkt: So geht es nicht. Zum Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre trugen dann aber Lehramtsanwärter den Slogan "Rechtschreibwissen ist Herrschaftswissen" in die Schulen: Rechtschreibwissen werde schon immer als Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse missbraucht. Später wurden dann Schlüsselstellen in Verbänden, Gremien und Politik mit Reformpädagogen oder deren Sympathisanten besetzt. So konnten sich die Methoden in den Grundschulen immer weiter ausbreiten.

„Rechtschreibung ist nicht ein Wert an sich - sie hat kommunikative Bedeutung. Richtige Rechtschreibung ist - auch heute noch - die Basis für schulischen und beruflichen Erfolg“, erklärt Jansen.

Unter "Lesen durch Schreiben" leiden besonders diejenigen, die ohnehin benachteiligt sind. Unterschicht-Kinder, die in einer spracharmen Umgebung aufwachsen, Migrantenkinder, die von Anfang an nur schlecht Deutsch sprechen, und Mädchen und Jungen, die eine genetische Belastung zur Ausbildung einer Legasthenie aufweisen. Legastheniker werden in der allgemeinen Schreibanarchie einer Klasse zudem oft viel zu spät erkannt. Selbst viele Kinder, die am Ende einigermaßen Schreiben lernen, bleiben wahrscheinlich ein Leben lang schwächer, was nicht hätte sein müssen, so Jansen.

Sorgende Eltern, betont Jansen weiter, sollten sich einen erfahrenen Lehrer suchen, der noch effektiv zu unterrichten versteht. Ganz oft sind es Nachhilfeinstitute oder auch die Eltern oder Großeltern, die mit den Kindern üben und für deren Erfolg verantwortlich sind.