Montag, 12. November 2012

"Spiegel-Online" berichtet über den Alltag der Sterbebegleitung

Der Bericht in Spiegel Online erschien am 7. November 2012

Sophia Üffling, 19 Jahre, sieht jeden Tag Menschen, die bald sterben werden. Das hat sie sich so ausgesucht und es gefällt ihr, anderen zu helfen, als Freiwillige in einem Hospiz in Köln - auch wenn der Tod sie manchmal überrumpelt.

Am Ende des Flurs bleibt Sophia mit ihrem Tablett stehen. Sie klopft an die Tür von Zimmer 1 des Johannes-Nepomuk-Hauses. Sie wartet kurz, dann tritt sie ein. Auf der Bettkante sitzt eine weißhaarige Frau. Familienfotos von Inge Kaiser* hängen an der Wand oder stehen auf Tischen: der Sohn, die Schwiegertochter, die Enkelin. 

"Ich bin nicht ansteckend, auch wenn ich bald sterben werde", sagt die 64-Jährige.

Für eine Frau, deren Tage gezählt sind, wirkt Frau Kaiser munter. Ohne Hilfe kann sie essen oder mit dem Rollator zur Toilette gehen. Kaiser nimmt nur wenige Löffel zu sich. Sie erzählt der jungen Frau lieber, wie sie im Sommer mit heftigen Bauchschmerzen einen Arzt aufgesucht hatte. Nach der Untersuchung sagte er: "Sie haben Leberkrebs im Endstadium - inoperabel."

Sophia Üffing arbeitet im Spätdienst, also heute bis 21.30 Uhr. Sie hat eine von rund 35.000 Stellen im Bundesfreiwilligendienst. Weil sie erst seit einem Monat im Hospiz arbeitet, kümmert sie sich um die geistig noch fitten Patienten. Das Pflegeteam will sie nicht überfordern. "Sophia fängt mit kleinen Tätigkeiten an: Mahlzeiten vorbereiten und servieren, kleinere Einkäufe für Patienten erledigen und hauswirtschaftlichen Arbeiten", sagt Nico Blei, 32, stellvertretender Hospizleiter.

Sophia will ein Jahr bleiben. Sie darf jederzeit das Zimmer eines Patienten verlassen, wenn es ihr zu viel wird. Um 18 Uhr leistet sie Inge Kaiser immer noch Gesellschaft. Im Hospiz erholt sich die Frau von den Strapazen in der Klinik. Sie habe nun keine Schmerzen mehr, weil sie Morphium bekomme. Man merkt Sophia nicht an, ob ihr die Geschichte der Patientin zusetzt, sie bleibt freundlich und zugewandt. "Hier versucht man das Sterben so angenehm wie möglich zu machen", sagt Sophia.

Im Durchschnitt bleiben Bewohner 20 Tage im Hospiz, sagt ein Sprecher des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (DHPV). Manche leben nur wenige Tage in der Einrichtung, andere Wochen oder auch mal Monate. Während ihres Dienstes wird Sophia vermutlich mehr als hundert Patienten kommen und sterben sehen. Nicht alle sind alt, manche erst 30 oder 40 Jahre.

"Es gibt Leute, die sagen, dass sie sterben wollen, weil sie nicht mehr leiden möchten", sagt Sophia. Bei solchen Sätzen fühle sie sich überrumpelt und unwohl, weil sie nichts tun kann.
Mit ihren Kollegen spricht Sophia über Belastendes, aber auch über alltägliche Dinge. Wenn Sophia nicht weiß, wie sie mit einem Patienten umgehen soll, wendet sie sich an die Kollegen. "Ich kann mit allen im Team reden, auch über schwierige Gefühle".

Während andere Leute einen Bogen um schwerstkranke Menschen machen, will Sophia helfen. Sie mag es nicht, wenn Menschen leiden. Sophia bekommt dafür ein Taschengeld von 300 Euro im Monat. 

Ihre erste Patientin war eine 80-jährige Frau. Sophia ging oft zu ihr in das Zimmer. „Sie war immer gut gelaunt“. Die Rentnerin erzählte vom Krieg und von Bombenangriffen. Und dass heute alles teurer geworden sei. Zwei Wochen, nachdem Sophia den Freiwilligendienst angetreten war, verschlechterte sich der Zustand der Dame - kurz darauf starb sie. "Zuerst war ich erschlagen, weil es so plötzlich kam", sagt Sophia. Sie ging ein letztes Mal in ihr Zimmer, um sich zu verabschieden. Vier oder fünf Tote hat sie schon gesehen, sie habe es nicht so schlimm gefunden.

Sophia räumt die letzten Tabletts in den Essenswagen zurück. Sie schiebt ihn durch den Flur, vorbei an einem Baum mit vielen Ästen und über hundert grünen Blättern aus Papier - der "Lebensbaum". Auf den Blättern stehen die Namen und Todestage der Patienten, die seit vergangenem November gestorben sind. Es sei ein komisches Gefühl zu wissen, dass schon so viele Menschen in diesem Haus gestorben sind, sagt Sophia. Aber beängstigend findet sie es nicht. 

Mitte November lädt das Hospiz zu einem Gedenkgottesdienst ein, bei dem die Namen all derer vorgelesen werden, die inzwischen gestorben sind. Danach können die Angehörigen die Blätter mit den Namen ihrer Lieben mit nach Hause nehmen. 

Inge Kaiser weiß, dass sie bald auch auf einem Blatt stehen wird. Und sie sagt: "Ich will keine lebensrettenden Maßnahmen, ich wünsche mir einfach, menschlich behandelt zu werden." Dabei sieht sie Sophia lange an. Die lächelt.

*Name wurde geändert