Sonntag, 22. Januar 2012

Papst Benedikt XVI.: Christentum ist einer zunehmenden Feindseligkeit ausgesetzt


Auszug der Ansprache an die Gruppe katholischer Bischöfe der Bischofskonferenz der USA bei deren Besuch "ad Limina Apostolorum" (19. Januar 2012)

Im Herzen jeder Kultur besteht, ob bewusst wahrgenommen oder nicht, eine Übereinstimmung über das Wesen der Wirklichkeit und des moralisch Guten und somit über die Bedingungen menschlichen Wohlergehens.

In Amerika war dieser Konsens, wie in den Gründungsdokumenten eurer Nation verbürgt, in einer Weltsicht verankert, die nicht allein vom Glauben, sondern auch von der Verpflichtung zu bestimmten sittlichen Grundsätzen, die sich aus dem Naturrecht und dem Wesen Gottes ergeben, geformt wurde.

Heute wird dieser Konsens maßgeblich aufgeweicht angesichts mächtiger neuer Kulturströmungen, die nicht nur genau das Gegenteil der wesentlichen moralischen Lehren der jüdisch-christlichen Überlieferung darstellen, sondern dem Christentum als solchem zunehmend feindselig gegenüber stehen.

Die Kirche in den Vereinigten Staaten ist dazu aufgerufen, sowohl gelegenen wie auch ungelegen das Evangelium zu verkünden, das nicht einfach nur zeitlose moralische Wahrheiten empfiehlt, sondern diese vielmehr als Schlüssel zu menschlichem Glück und zu einer blühenden Gesellschaft vorbringt (vgl. Gaudium et Spes, 10).

In Anbetracht der Tatsache, dass einige aktuelle kulturelle Tendenzen Elemente enthalten, die die Verkündigung dieser Wahrheiten eindämmen, sei es in Form einer Einengung im Rahmen einer rein wissenschaftlichen Rationalität, sei es in Form einer Unterdrückung im Namen politischer Macht oder eines Mehrheitsprinzips, stellen diese Entwicklungen eine Bedrohung dar, und zwar nicht allein für den christlichen Glauben, sondern für die Menschheit selbst sowie für die tiefste Wahrheit, was unser Dasein und unsere eigentliche Berufung, unsere Beziehung zu Gott, betrifft.

Wenn eine Kultur versucht, die Dimensionen der Glaubensgeheimnisse zu unterdrücken und die Türen zur übernatürlichen Wahrheit zu verschließen, wird ihr zwangsläufig eine Verarmung widerfahren und sie wird, wie mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. so deutlich voraussah, einer reduktionistischen und totalitären Lesart der menschlichen Person und der Natur der Gesellschaft zum Opfer fallen.

Mit ihrer langen Tradition des Respekts für eine angemessene Beziehung zwischen Glauben und Vernunft spielt die Kirche eine entscheidende Rolle als Kontrapunkt zu kulturellen Tendenzen, die auf der Grundlage eines extremen Individualismus danach streben, den Begriff Freiheit losgelöst von moralischen Wahrheiten zu verbreiten.

Unsere Tradition entspringt nicht einem blindem Glauben, sondern einer rationalen Sichtweise, die unsere Verpflichtung zum Aufbau einer wahrhaft gerechten, menschlichen und blühenden Gesellschaft mit unserer tiefen Zuversicht verknüpft, dass der Kosmos von einer inneren, der menschlichen Vernunft zugänglich Logik beherrscht wird.

Die Verteidigung einer sittlichenVernunft von Seiten der Kirche, die auf dem Naturrecht beruht, gründet auf der Überzeugung, dass dieses Gesetz keine Bedrohung für unsere Freiheit, sondern eher eine „Sprache“ darstellt, die uns dazu befähigt, uns selbst und die Wahrheit unseres Daseins zu begreifen und dadurch eine gerechtere und menschlichere Welt zu gestalten.

Insofern bringt die Kirche ihre Morallehre als eine keinesfalls einschränkende, sondern als befreiende Botschaft und als Fundament für eine sichere Zukunft ein.

Demnach ist das Zeugnis der Kirche von seinem Wesen her öffentlich: Sie versucht zu überzeugen, indem sie in der Öffentlichkeit rationale Argumente vorbringt.

Die legitime Trennung von Kirche und Staat kann weder so verstanden werden, dass die Kirche in Bezug auf bestimmte Themen schweigen muss, noch bedeutet dies, dass der Staat das Mitspracherecht engagierter Gläubiger bei der Festlegung der Werte, die die Zukunft der Nation bestimmen, beschneiden kann.

Angesichts dieser Überlegungen ist es unerlässlich, dass die gesamte katholische Gemeinschaft der Vereinigten Staaten begreift, welch gravierenden Bedrohungen die Kirche in ihrem öffentlichen moralischen Zeugnis ausgesetzt ist: Bedrohungen, die von einem radikalen Säkularismus, der in politischen und kulturellen Kreisen immer mehr Anklang findet, hervorgebracht werden. Der Ernst dieser Bedrohungen muss auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens klar eingeschätzt und bewertet werden.