Donnerstag, 10. November 2011

Vergessene Wahrheiten: Am Anfang der Abtreibungsdebatte war die Mehrheit der Deutschen gegen eine weitere Liberalisierung

Mathias von Gersdorff

Wenn unseren Politikern nichts einfällt, um ihre falschen Entscheidungen zu begründen, behaupten sie seien entweder „alternativlos“ gewesen, oder, „man müsse sich den neuen Realitäten anpassen“. Damit wird bezweckt, eine weitere Diskussion zu ersticken und sich ungemütlichen Fragen oder Argumenten Dritter zu entziehen.

Besonders oft war dies bei Entscheidungen von Unionspolitikern zu beobachten.

Skandalöserweise konnte die Präimplantationsdiagnostik (PID) im Sommer 2011 nur mit Hilfe von Unionspolitikern, die von Peter Hintze angeführt wurden, liberalisiert werden. Diese behaupteten auch, sie ließe sich nicht verbieten, da ja schon die Abtreibung möglich sei. Es wäre unlogisch, PID zu verbieten, wenn das ungeborene Kind später sowieso getötet werden kann. Diese Pseudo-Logik ist natürlich makaber. Kein Kind sollte getötet werden! Weder nach einer PID, noch durch die Abtreibung. Korrekterweise hätten Hintze & Co. fordern müssen, die Abtreibung zu verbieten, da ja die PID auch (bis zum Sommer 2011) verboten war. Doch nein, man müsse sich eben an die neuen Realitäten anpassen.

Das Drama um die PID-Zulassung ist ein Déjà-vu der großen Abtreibungsdiskussionen Anfang der 1990er Jahre. Damals – nach der Wiedervereinigung – gab es zwei Abtreibungsregelungen in Deutschland. Im ehemaligen Westdeutschland galt die sog. Indikationsregelung, in der ehemaligen DDR die uneingeschränkte Fristenregelung, die ohne Angabe von Gründen eine Abtreibung bis zum dritten Monat erlaubte.

Genauso wie bei der PID-Debatte im Jahr 2011, war die Union im Jahr 1990 bezüglich der Abtreibungsfrage gespalten. Die Mehrheit wollte die Indikationsregelung beibehalten, die Abtreibungen nur unter gewissen Voraussetzungen zuließ, wie etwa Gesundheit der Mutter, soziale Notlage usw. Dieser ohnehin schon schwache Schutz der Ungeborenen wurde im Laufe der Zeit zunehmend verwässert. Doch rein theoretisch war sie wesentlich besser als die sich anbahnende Fristenlösung, die von einem Teil der Union favorisiert wurde.

Bekanntlich wurde schließlich die Fristenlösung mit Beratungspflicht eingeführt. Heute will die Mehrheit der Unionspolitiker vom Thema nichts mehr wissen. Sie argumentieren fast immer so: „Damals wurde nach langen Verhandlungen ein Konsens gefunden. Es sei nicht ratsam, diesen aufzukündigen“.

Fragt sich nur, ob dieser angebliche „Konsens“ irgendwas mit dem Volkswillen zu tun hatte. Auskunft gibt eine kleine Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur vom 22. November 1990, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 23. November 1990 erschienen:

Allensbach: Klare Mehrheit befürwortet Indikationslösung.

Lediglich 27 Prozent der Bevölkerung in den alten und 45 Prozent in den neuen Bundesländern sprechen sich nach einer Allensbach-Umfrage für die Einführung der sogenannten Fristenregelung aus (Die später dann tatsächlich kam, allerdings verbunden mit der Beratungspflicht, Anm. d. Red.). 47 Prozent der Befragten im früheren Bundesgebiet plädierten der Repräsentativerhebung zufolge für die Beibehaltung der bisherigen Indikationenregelung und 18 Prozent befürworteten eine „enger gefasste Indikationenregelung“. . . . Die derzeitigen politischen Aktivitäten der FDP, SPD und Teilen der Union (!), die auf die Einführung der Fristenregelung mit oder ohne Pflichtberatung abzielten, stünden damit in einem deutlichen Widerspruch zum Meinungsbild der Öffentlichkeit, sagte die Generalsekretärin des Sozialdienstes katholischer Frauen, bei der Vorstellung dieser Ergebnisse in Bonn. Es bestehe „Kein zwingender Druck“ aus der Bevölkerung.

Die Meinung der Mehrheit wurde schlicht übergangen, das Recht auf Leben der Ungeborenen definitiv demoliert – aus Feigheit, aus Mutlosigkeit, aus Machtkalkül oder aus Mangel an Vision. Jedenfalls waren Politiker damals nicht gezwungen, sich an „Realitäten anzupassen“ und die Freigabe der Abtreibung war keinesfalls „alternativlos“.