Mittwoch, 4. Mai 2011

Warnung vor zunehmender Sexualisierung der Kinder

Ein Phänomen, das immer noch viel zu wenig in der Öffentlichkeit beachtet wird, ist die Sexualisierung der Kinder und der Kindheit. Und doch war es unvermeidlich, daß die Sexualisierung der Gesellschaft auch auf die Kinder und ihre Welt überschwappen würde. Gerade in Deutschland versuchen die Politiker die Sexualisierung und ihre Schäden in Schubladen zu stecken und wollen nicht erkennen, daß Pornographisierung, Erotisierung, Sexualisierung der Kindheit, Pädophilie und Kinderpornographie Aspekte eines einzelnen Problems ist: Die sexuelle Verwahrlosung der Gesellschaft.

In den Vereinigten Staaten ist man da schon weiter, sowohl in der Problembeschreibung und -analyse, wie auch in der Suche nach Lösungen. Ein wichtiger Beitrag ist das Buch „So sexy – so soon: the new sexualized childhood and what parents can do to protect their children“ von Diane K. Levin und Jean Kilbourne. Die Autoren zeigen, wie die ständige Berieselung der Kinder mit sexuellen Inhalten – die vor allem in der Werbung präsent sind – ihre Persönlichkeit, ihr Verhalten, ihr ganzes Leben verändern. Vier-, fünf-, sechsjährige Kinder lernen, ein Verhalten an sich zu legen, der sexuell anziehend ist; sie lernen, sich „sexy“ zu kleiden und sie lernen, daß ihr Status in der Gesellschaft davon abhängig ist, welche sexuellen Reize sie haben und wie sie diese zeigen.

Die jungen Kinder – so die beiden Autoren - lernen dies vor allem durch die Werbung, aber auch durch die gesamte sexualisierte Umgebung, in der sie Leben: Filme, Fernsehen, Internet, Musik, Musik-Videos usw. teilen den Kindern mit, daß Sexualität der bestimmende Faktor im Leben ist und dementsprechend bilden sie ihre Persönlichkeit. Sie sehen sich selbst und die anderen zunehmend als sexuelle Objekte, frei von einer wahren Persönlichkeit. Die Beziehungen zu anderen werden fast nur in einer Perspektive der sexuellen Anziehung gesehen, auch wenn sich diese Persönlichkeits- und Identitätsbildung bei den Kindern nicht bewußt vollzieht.

Kinder sind dabei, einen horrend hohen Preis für die sexuelle Verwahrlosung unserer Gesellschaft zu bezahlen. Sie werden tagtäglich mit Inhalten konfrontiert, die sie nicht richtig verstehen und einordnen können, die sie aber dennoch beeinflussen und bilden; die sie auch verwirren oder sogar erschrecken können. Schon sehr jung lernen sie, daß ihre sexuelle Anziehung ihren Marktwert bestimmt und sie deshalb jeglichen Opfer auf sich nehmen müssen, um in dieser sexualisierten Welt bestehen zu können. Und das müssen sie außerdem noch anhand von Signalen aus den Medien, aus der Werbung, aus der Musik tun, die sie nicht verstehen können. Sie verstehen lediglich, daß sie die Norm in unserer Gesellschaft sind. Sie lernen, daß Sexualität das Bestimmende im menschlichen Zusammenleben und entscheidend für den Erfolg oder Mißerfolg ist – sie lernen dies, ohne es richtig zu verstehen, was ein gigantischer Streßfaktor ist. Durch die Fixierung auf das Sexuelle nehmen sich dann die Kinder selbst und die anderen fast als bloße Objekte wahr.

Die ununterbrochene Sexualisierung durch die Medien kann auch zu weiteren abnormen Sexualverhalten wie sexuellen Mißbrauch, Pädophilie und Prostitution führen. Die Sexualisierung der Kindheit fördert diese Sexualpraktiken und – wie die American Psychological Association nachweist – können diese Probleme nicht getrennt voneinander gesehen werden, denn sie sind verschiedene Aspekte desselben Problems, so daß es kaum möglich ist, das Problem der Sexualisierung der Kinder unabhängig von der Sexualisierung der Gesellschaft zu lösen.

Dennoch ist es wichtig, verstärkt auf die Sexualisierung der Kindheit hinzuweisen, denn dieses Problem bekommt noch nicht genügend Beachtung im Vergleich beispielsweise zur Sexualisierung der Jugend. In der Tat ist eine der wichtigsten Quellen dieses moralischen Angriffes die sog. Pop-Kultur mit ihren sexbeladenen Fernsehserien, Musik-Videos und Pop-Sänger, die Sexualität in Erscheinung und Text massiv einsetzen. Doch auch die Kinder konsumieren diese Pop-Produkte und zwar immer früher im Leben.

In ihrem Buch „So sexy – so soon“ berichten Levin und Kilbourne, daß für 47% der US-Amerikanischen Eltern der Schutz ihrer Kinder vor negativen gesellschaftlichen Einflüssen, inklusive desorientierende und verwirrende Bilder, Gewalt und nicht altersgemäße Nachrichten aus den Medien, die größte Herausforderung für sie als Eltern sei (Statistik aus dem Jahr 2002).

Als Beispiel für negative Einflußfaktoren werden immer wieder die „Bratz-Puppen“ (Bratz Dolls) genannt. Puppen, die entsprechend dem Motto „The girls with a passion for fashion“ (Die Mädchen mit Leidenschaft für Mode), völlig aufgetakelt und geschminkt, oft mit sehr knappen Miniröcken und mit bauchfreien Tops, immer für wilde Parties bereitstehen, daherkommen. Mit den ultra-schlanken Puppen lernen vierjährige Mädchen spielend, wie man sich „sexy“ kleidet, wobei manche der Puppen wie Prostituierte aussehen. Die Autoren von „So sexy, so soon“ berichten von verzweifelten Eltern, die sich über die Magersucht, die Neurose für Mode und die Verzweiflung über den eigenen Körper ihrer jungen Töchter berichten. Siebenjährige Mädchen treffen sich, um mit den Bratz-Puppen Modeschauen zu imitieren, Parties zu organisieren, Shoppinggehen zu spielen oder mit Jungs zu flirten. Die Bratz-Puppen zeigen den Mädchen, die sich noch im Alter des Spielens mit Puppen befinden, wie man sich sexuell anziehend kleidet, schminkt und verhält. Und auch ernährt: Eltern berichten von sieben- oder achtjährigen Mädchen, die sich zu dick vorkommen und der Meinung sind, sie müßten eine Diät machen.

Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs: Immer mehr werden Kinder mit richtiger Pornographie vor allem im Internet konfrontiert. Sie benutzen dann Ausdrücke von perversen Sexualpraktiken, dessen Sinn sie nicht erfassen können, sie verlangen nach Klamotten, die nicht nur unmoralisch, sondern direkt gefährlich sind, wie bauchfreie Tops oder ultrakurze Minikleider. Und das alles geschieht bei Kindern, die noch gar nicht Pubertät erreicht haben. Wenn sie aber erst älter werden, ist der Absturz in die komplette sexuelle Verwahrlosung fast unvermeidlich.

Problematisch für die Eltern ist, daß das Alter, in welchem Heranwachsende rebellisch werden, drastisch sinkt. Die Kinder rebellieren aber nicht, weil sie mehr Unabhängigkeit möchten oder weil sie sich von ihren Eltern eingeengt fühlen, sondern weil ihre Eltern ihnen keine Klamotten kaufen möchten, damit sie sich sexuelle anziehend kleiden können. Die Pop-Kultur mit ihren sexualisierten Inhalten bildet im Denken des Kindes ein Gegensatz zu den Normen und Prinzipien, die die Eltern in ihrer Erziehung anwenden. Im kindlichen Kopf leben zwei Kulturen, die in ständigem Kampf miteinander sind: Die Kultur der Eltern und die Kultur des Kommerzes, der Werbung, der Pop-Musik, der Fernsehserien. Dieser Konflikt ist bei den kleinen Kindern aber viel dramatischer als bei den in die Pubertät kommenden älteren, weil sie nicht in der Lage sind zu erkennen, daß es sich um widerstreitende Wertesysteme handelt. In den USA, so die Angaben von Levin und Kilbourne, fühlen 49% der Eltern, daß sie in der Erziehung ihrer Kinder scheitern.

Nicht nur die Eltern leiden unter den erschwerten Erziehungsbedingungen. Auch die Kindergärten und Schulen in den USA berichten seit einigen Jahren immer mehr über schwer erziehbare Kinder, die offensichtlich laufend sexuelle Inhalte aus Medien und Werbung empfangen. Kinder im Vorschulalter sprechen eine sexualisierte Sprache, stellen Fragen über sexuelle Praktiken, meinen, sie müßten sich „sexy“ kleiden und singen Liedtexte mit erotischen Passagen nach.

Eine große Verantwortung für diese Katastrophe trägt für die Autoren Levin und Kilbourne die Werbeindustrie, denn diese peilt immer gezielter Kinder – auch im Vorschulalter - mit ihren Kampagnen an. Je jünger das Kaufverhalten eines Menschen von einer bestimmten Werbung geprägt wird, desto länger hält die Wirkung dieser Werbung an. Der Haltbarkeitswert der Werbung ist also länger, je jünger der gewonnene Kunde. Gleichzeitig gilt, daß je jünger ein Kunde, desto wichtiger sind Werbeinhalte mit rein primären Botschaften. Diese sind für gewöhnlich Sexualität und Gewalt. Obwohl ein Kind nicht die sexuellen Inhalte einordnen kann, versteht es trotzdem, daß sie wichtig sind in der Gesellschaft, daß sie Normen darstellen, nach denen man sich zu richten hat, daß sie für den Status in der Gesellschaft entscheidend sind. Die Werbung versucht also im Gehirn des Kindes Verhaltensmuster, man könnte sie „Raster“ nennen, die normalerweise das ganze Leben prägen werden. Ein fünfjähriges Kind, das beispielsweise lange genug mit Bratz-Puppen spielt, wird sich sein Leben lang für Mode, für sexuell anziehende Kleidung, für aufwendige Schminke, für aufwendige Frisuren interessieren – eine Traumvorstellung für die Modeindustrie.

Kinder unter acht können nicht richtig realisieren, daß Werbung die Absicht verfolgt, jemand zum Kauf eines Produktes zu animieren. Sie können auch nicht richtig erfassen, daß das, was sie sehen, künstlich ist. Sehen sie beispielsweise in einer Werbung ein glückliches Kind, begreifen sie nicht, daß es sich glücklich zeigt, weil man es dafür bezahlt. Das Kind in diesem Alter unterscheidet noch nicht genau zwischen Realität und Fiktion.

Hinzu kommt, daß sehr junge Kinder die Dinge nicht in rationalen Prozessen wahrnehmen, sondern sich wie eine Abfolge von Bildern in ihren Geist einprägen. Für sie kann deshalb eine Bildsequenz, die für einen Erwachsenen wirr erscheint, durchaus Sinn machen, denn die einzelnen Bilder sind für sie so etwas wie die Teile eines Mosaiks. Sehen kleine Kinder beispielsweise Werbung mit sexuellen Inhalten, können sie den wahren, bzw. den sexuellen, Inhalt nicht erfassen, denn sie werden diese Bilder mit anderen assoziieren. Auf diese Weise bildet das Kind eine Architektur von Werten, eine Weltanschauung. Eine Weltanschauung, die aber maßgeblich von sexuellen Botschaften beeinflußt wurde. Das ist schon schlimm genug, doch es kommt noch hinzu, daß das Kind die stereotypisierten sexuellen Botschaften völlig losgelöst von weiteren Affekten und Beziehungen wahrnimmt. Der Mensch mit seiner Geschlechtskraft wird auf diese Weise zu einem bloßen Objekt reduziert.

Aber auch hier ist nicht nur die Werbeindustrie die einzige Quelle negativer Einflüsse. Auch die Pop-Kultur mit ihren sexualisierten Pop-Ikonen spielt eine katastrophale Rolle. Die Pop-Stars wie Britney Spears, Christina Aguilera, Miley Cyrus; „Girl-Bands“ wie die Sugababes, die Pussycat Dolls und viele andere, sind mit ihren Musikvideos samt sexualisierten Liedtexten gewissermaßen die Lifeversion der Bratz-Puppen.

Inzwischen gibt es auch Pop-Musik – von Produzenten wie Kidz Bop -, die sich gezielt an Kinder im Vorschulalter richtet. Die Texte dieser Musik enthalten zwar keine nicht explizit sexualisierten Inhalte, sie ist aber dennoch der Einstieg in die Pop-Welt. Wenn das Kind erstmal da drin ist, wird es früher oder später beginnen, die sexualisierten Versionen zu hören und vor allem in den Musikvideos zu sehen.

Das kann sehr schnell gehen. Levin und Kilbourne berichten von sechsjährigen Mädchen, die Britney Spears hörten und sahen und die durchaus in der Lage waren zu verstehen, daß ihre äußerst knappe Kleidung „sexy“ sei und ihre Tanzbewegungen zu imitieren seien, wenn man Wirkung erreichen wolle, gleichwohl sie die sexuelle Bedeutung nicht ganz erfassen könnten.

Gewalt findet sich überwiegend in Produkten, die sich an Jungen richten und ist sowohl in den Fernsehproduktionen, wie auch in Videospielen enthalten. Einige der schlimmsten Sendungen sind die „Masters of the Universe“, die „Teenage Mutant Ninja Turtles“, die „Mighty Morphin Power Rangers“ bzw. die „Power Rangers“ und viele weitere.

Die Videospielindustrie erreichte in den Vereinigten Staaten im Jahr 2007 einen Umsatz von 18 Milliarden Dollar und war damit größer als die (nicht Videospiele produzierende) Spielindustrie.

Dennoch ist nicht nur die Videospielindustrie für die zunehmende Gewalt verantwortlich, sondern auch die „normalen“ Spiele, denn viele Videos sind bloß die Version für die älteren Kinder. Sind sie noch zu klein und jung, spielen die Kinder mit dem Kinderspielzeug, das dann mit zunehmendem Alter gegen die Videoversion umgetauscht wird. Die Spielzeugpuppen sind sozusagen bloß der Einstieg in einen Gewaltwirbel, der nicht selten immer mehr erotische Elemente enthält.

Das Fernsehen ist wohl das Medium, das am meisten die Kinder und Jugendlichen mit erotisierenden Inhalten bombardiert: In den Vereinigten Staaten sehen sie etwa 40.000 Werbesendungen jährlich, von denen die meisten sexualisierte Inhalte haben.

Die Adoleszenz

Wenn ein Kind, das von früh an mit sexuellen Inhalten bombardiert wurde, in die Adoleszenz kommt, ist die Katastrophe perfekt. Der von der Sexualisierung der Gesellschaft desorientierte Jugendliche wird nach immer expliziteren sexuellen Inhalten suchen und immer brutalere Gewalt sehen müssen, um noch den „Kick“ zu spüren.

Jugendliche sind ein begehrtes Zielpublikum der Werbeindustrie. In den Vereinigten Staaten geben Jugendliche in der Pubertät 155 Milliarden Dollar aus. Mädchen geben 8 Milliarden allein für Beauty-Produkte aus. Was schon in der Werbung für Kinder im Ansatz präsent war, kommt bei den Älteren zur vollen, unbarmherzigen Entfaltung: Sexualität wird als Köder in so gut wie jeder Werbung, die sich an Jugendliche in der Adoleszenz richtet, benutzt.

Heutzutage werden in der Werbung, in der Mode und in der Pop-Kultur immer mehr Elemente benutzt, die aus der Pornographieindustrie stammen. In der Mode ist besonders auffällig, wie selbst sehr junge Mädchen sich wie Prostituierte kleiden – sie nennen das „Bitch-Style“ -, der aggressiv durch sog. Jugendzeitschriften populär gemacht wird. In vielen Musik-Videos von Pop-Sängern wie beispielsweise Britney Speras (Slave 4 you, Toxic), Miley Cyrus (Can´t be tamed) oder - besonders deutlich - Christina Aguilera (Not myself tonight) und Rihanna (S&M) werden sadomasochistische Elemente oder erotischer Tänze verwendet, die normalerweise in Nachtclubs aufgeführt werden. 40% der Texte von Pop-Liedern enthalten erotische Passagen.

Das Internet macht die Katastrophe komplett: Man schätzt, daß 12% aller Internetseiten Pornographie zeigen. 25% der Suchen in den Suchmaschinen betreffen Pornographie. 70% aller Fernsehsendungen beinhalten Sexualität, 34% zeigen Sexualpraktiken. Der typische Jugendliche, der zwischen drei und fünf Stunden täglich fernsieht, sieht etwa 14.000 Hinweise auf Sexualität und 2000 Sexualakte jährlich im Fernsehen. Umfragen haben ergeben, daß 75% der Jugendlichen der Meinung sind, daß die erotischen Inhalte im Fernsehen Jugendliche beeinflussen. Die überwiegende Mehrheit ist der Meinung, daß das Fernsehen zu einem freizügigen Sexualleben verführt. In der Tat bestätigen Studien, daß es eine Korrelation zwischen Fernsehkonsum und freizügiges Sexualverhalten gibt. Ebenso gibt es eine deutliche Korrelation zwischen sexueller Freizügigkeit und Depressionskrankheiten.

Persönlichkeitsstörungen sind unter diesen katastrophalen Umständen kaum zu vermeiden. Levin und Kilbourne berichten von 300 Studien, die zeigen, daß die permanente Aussetzung gegenüber erotisierende Werbung, Pop-Musik, Fernsehserien usw. dazu führt, daß sich Mädchen als pure Objekte empfinden. Viele leiden unter emotionalen Ungleichgewichten, krankhaften Angst- und Schuldgefühlen und Depressionen. Es ist nachgewiesen, daß viele Mädchen eine gestörte Wahrnehmung ihres eigenen Körpers haben. Die praktisch unmöglich zu erfüllenden Normvorgaben der Pop-Industrie hinsichtlich Aussehen, „Sexyness“ und Figur führen zu Verzweiflung, Depressionen und Selbstmorden.

Die Verbindung von Sexualität und Gewalt führt zu einer systematischen Desensibilisierung der Gesellschaft für sexuelle Gewalt, obwohl diese nach wie vor geächtet wird. Insbesondere die extremen Formen von Pornographie, die heute im Internet frei verfügbar sind, führen zu einer Verrohung und Akzeptanz von gewaltvoller Sexualität.