Mittwoch, 1. September 2010

Erzbischof Reinhard Marx (München) setzt sich durch: Deutsche Bischofskonferenz beschließt generelle Anzeigepflicht bei Mißbrauchsverdacht

Felizitas Küble, Leiterin des kath. KOMM-MIT-Verlags und des Christoferuswerks eV. in Münster

Bischof Stephan Ackermann, katholischer Oberhirte des Bistums Trier und Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für den Themenbereich „sexueller Mißbrauch“, präsentierte am 31. August 2010 die nunmehr überarbeiteten „Leitlinien“ zum innerkirchlichen Umgang mit Mißbrauchsvorwürfen.

Der Trierer Bischof erklärte hierzu: „Die schrecklichen Erkenntnisse und Erfahrungen der vergangenen Monate haben uns gezeigt, dass die Leitlinien von 2002 nicht in allen Punkten präzise genug waren. Deshalb haben wir sie noch einmal einer besonders kritischen Prüfung unterzogen und verschärft.“

Ein zentraler Punkt sei die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden. „Hier galt es, soweit möglich und rechtlich zulässig ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Anzeigepflicht und der Gewährleistung eines Opferschutzes zu erreichen“, erläuterte Bischof Ackermann.

Folglich ging es darum, zwischen einer "Anzeigepflicht" und dem möglichen Interesse des mutmaßlichen Opfers abzuwägen (das oftmals keinen Prozeß wünscht) - und somit beiden Aspekten gerecht zu werden.

Doch der bischöfliche „Mißbrauchsbeauftragte“ scheint über den offensichtlichen Sachverhalt hinwegsehen zu wollen, daß es eine gesetzliche Meldepflicht in Deutschland nicht gibt. Welche "Anzeigepflicht" meint Stephan Ackermann also? Auch im Kodex des Kirchenrechts (CIC) und in den Vatikanischen Leitlinien ist von einer Anzeigepflicht bei bloßem Mißbrauchs-Verdacht keine Rede.

Oder denkt der Trierer Bischof etwa an die von Erzbischof Reinhard Marx (München) herbeifabulierte "Meldepflicht", die freilich kein objektives Fundament aufweisen kann, da sie weder staatlichem noch kirchlichem Recht entspricht? Der Münchner Oberhirte hatte im Rahmen seiner speziellen „Null-Toleranz-Strategie“ eine innerkirchliche Anzeigepflicht für sein Bistum eingeführt und dies Vorgehen auch den anderen bayerischen Diözesen aufgedrückt.

Somit ist klar: Bei der nun erfolgten Überarbeitung der bischöflichen Leitlinien zur Mißbrauchsproblematik hat sich die rigorose bzw. gnadenlose Linie des Münchner Oberhirten weitgehend durchgesetzt, wenngleich diese Null-Toleranz-Strategie sich in der Praxis beileibe nicht bewährte, denkt man etwa an das unfaire Vorgehen des Erzbischofs gegen das bayerische Kloster-Internat Ettal oder an die von Marx mitgetragene Groß-Intrige gegen Bischof Dr. Walter Mixa, die sich als infame Verleumdung erwies.

Entscheidend ist freilich das Interesse möglicher Mißbrauchs-Betroffener: Verschiedene Opferschutzverbände wie "Zartbitter" und "Wildwasser" haben sich bereits im Februar 2010 öffentlich gegen die von Erzbischof Marx verkündete kirchliche Anzeigepflicht geäußert, was diesen offenbar nicht beeindruckte.

Bischof Ackermann erklärte insoweit zu den neuen Richtlinien: „Die Pflicht zur Weiterleitung eines Verdachts an die Staatsanwaltschaft entfällt nur ausnahmsweise, wenn dies dem ausdrücklichen Wunsch des mutmaßlichen Opfers (bzw. dessen Eltern oder Erziehungsberechtigten) entspricht und der Verzicht auf eine Mitteilung rechtlich zulässig ist.“

„Soweit – so gut“, würde man denken, wenn nicht ein „Aber“ folgen würde, denn der Bischof setzte seine Stellungnahme fort: „In jedem Fall sind die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, wenn weitere mutmaßliche Opfer ein Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung der Taten haben könnten.“

Es gilt also auch dann eine Anzeigenpflicht, wenn ein Betroffener dies zwar nicht wünscht, aber andere mutmaßliche Opfer ein Interesse daran haben „könnten“(!).

Dies kann man freilich in fast allen Fällen vermuten, so daß die neuen Richtlinien letztlich auf eine generelle Anzeigenpflicht bei Verdacht abzielen.

Eine schlichtweg verhängnisvolle Entschließung, die zu Lasten möglicher Opfer erfolgt, aber wahrscheinlich aus dem Motiv heraus geschah, sich gegenüber Politik und Medien als "Super-Saubermänner" zu profilieren, wie dies von Erzbischof Marx schon seit Februar 2010 intensiv vorgeführt wird.

Ganz in diesem Sinne bzw. Unsinne reagierte auch das „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ (ZdK), dem zwar jede demokratische Legitimation fehlt, sich als Vertretung „der“ Katholiken zu definieren, zumal es nicht von der katholischen „Basis“ gewählt wird, das sich aber gleichwohl gerne zu allem und jedem äußert, so auch diesmal laut Pressemeldung:

"Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat die verschärften Richtlinien der Bischöfe zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch begrüßt. Damit werde deutlich, dass an erster Stelle die Opfer stehen, sagte der Präsident der katholischen Laienorganisation, Alois Glück, am Dienstag in Bonn. Er fügte hinzu: «Sie setzen ein klares Signal gegen Vertuschung und Verschleierung.»"

CSU-Politiker Alois Glück irrt sich allerdings, denn mit dieser neuen Regelung steht eben nicht das Interesse der möglichen Opfer im Vordergrund, sondern das bischöfliche Bedürfnis, sich gegenüber kirchenfeindlichen Medien als entschlossene „Anti-Mißbrauch-Rambos“ zu profilieren.

Es ist absehbar, daß sich in Zukunft weniger mutmaßliche Betroffene melden werden, weil sie damit rechnen müssen, daß aus ihrem verständlichen, ja berechtigten Wunsch, ihr Herz auszuschütten, sofort ein Fall für die Justiz wird. Vor allem jüngere Betroffene oder ängstliche Gemüter wollen oft gerne vermeiden, in die Mühlen einer juristischen Auseinandersetzung zu geraten. Diese neue Richtlinien sind daher - was die Anzeigepflicht betrifft - ein Signal gegen potentielle Opfer und bringen ihnen kein Glück, sondern eher Unglück.

Wenn der/die Betroffene einen mutmaßlichen Täter anzeigen will, kann es dies selber entscheiden; dafür benötigt wohl kaum jemand eine bischöfliche Amtsstube als Zwischeninstanz.

Zudem stellt sich die Frage: Wenn Alois Glück anscheinend so überzeugt ist vom Sinn der Meldepflicht, warum setzt der CSU-Politiker sie dann nicht staatlich durch? Warum macht er hierzu nicht einmal einen Anlauf? Welchen stichhaltigen Grund mag es geben, der zwar für eine kirchliche, jedoch gegen eine gesetzliche Anzeigepflicht spricht?

Immerhin hatte sich auch der "Runde Tisch Missbrauch" eindeutig gegen eine Anzeigenpflicht ausgesprochen, wobei FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger klein beigeben mußte: Gegen diese hochrangige Expertenrunde, darunter viele Juristen, kam sie mit ihrenThesen zur Anzeigepflicht, die sie noch im Februar 2010 vehement vertreten hatte, schlicht nicht an.

In "Financial Times Deutschland" (www.ftd.de) ist nun folgende aufschlußreiche Meldung zu lesen:

"Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht auch nach der Vorstellung neuer Leitlinien der katholischen Kirche zum Thema sexueller Missbrauch noch Klärungsbedarf. "Es wird nicht ganz deutlich, wie in innerkirchlichen Institutionen künftig mit den Fällen umgegangen werden soll, in denen das mutmaßliche Opfer der Einschaltung der Staatsanwaltschaft ausdrücklich widerspricht", teilte ihr Ministerium mit.“

Berücksichtigen wir zunächst den Ablauf der Ereignisse:

1. Im Februar 2010 beschwerte sich die FDP-Politikerin, daß die kath. Kirche nicht alle Verdachtsfälle der Staatsanwaltschaft meldet, wodurch es zum öffentlichen Streit mit Erzbischof Zollitsch kam.

2. Juristen mußten der Bundesjustizministerin sodann erläutern, daß es in Deutschland keine gesetzliche Anzeigenpflicht bei sexuellem Mißbrauch gibt. Zudem erklärten Opferschutzverbände, daß dies auch so bleiben soll.

3. Der "Runde Tisch Missbrauch" lehnte im Sommer eine Meldepflicht ebenfalls ab, die liberale Politikerin wurde somit erneut auf ihre natürliche Größe reduziert.

4. Demgegenüber bestand Erzbischof Marx weiter auf der innerkirchlichen Meldepflicht, obwohl diese weder staatlich noch kirchenrechtlich vorgesehen ist.

5. Nun hat sich Erzbischof Reinhard Marx in der Bischofskonferenz weitgehend durchgesetzt, wie die neuen Richtlinien dokumentieren; insoweit hat er die bekanntermaßen kirchenfeindliche Bundesjustizministerin noch „links“ überholt, zumal diese sich jetzt sogar beschwert, daß die neuen „Richtlinien“ den Wunsch eines mutmaßlichen Opfers, die Staatsanwaltschaft keineswegs zu informieren, nicht ausreichend berücksichtigt.

Es wird also deutlich: Die Bischofskonferenz befindet sich dank Erzbischof Marx durchaus nicht auf der Höhe der Diskussion, sondern immer noch auf dem „Abwehr-Kampf-Status“ vom Februar 2010 mit dem dazugehörenden Saubermann-Tick nach der Devise: „Wir greifen jetzt aber so richtig beinhart durch!“

Freilich haben die neuen Richtlinien durchaus auch ihr Gutes, z.B. bei Nr. 35: „Erweist sich ein Vorwurf oder Verdacht als unbegründet, werden die notwendigen Schritte unternommen, um den guten Ruf der fälschlich beschuldigten oder verdächtigten Person wiederherzustellen."

Allerdings scheint sich diese rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit bislang nicht bis zur Bistumsleitung Würzburg herumzusprechen: Der von Bischof Friedhelm Hofmann beurlaubte Franziskanerpater Damian Mai, der in diversen Medien mit Mißbrauchs-Vorwürfen überzogen, dann aber juristisch vollständig entlastet wurde, ist vom Würzburger Ordinariat auch nach zwei Wochen immer noch nicht öffentlich rehabilitiert worden, ebenso wenig wurde seine Beurlaubung aufgehoben.

Wie lange zögert der Bischof noch, sich an das ABC der Rechtsstaatlichkeit, an das Einmaleins des Anstands und an die Nr. 35 der neuen Richtlinien der Bischofskonferenz zu halten?