Mittwoch, 21. April 2010

Der Papst und sein Protest gegen eine „Diktatur des Relativismus“

Felizitas Küble, Leiterin des KOMM-MiT-Jugendverlags und des Christoferuswerks in Münster

Die Berichterstattung über das 5-jährige Pontifikat von Benedikt XVI. fiel in deutschen Medien größtenteils kritisch bis düster aus, mitunter auch aggressiv und kirchen-feindlich. Die meisten Kommentare befaßten sich eher oberflächlich mit „Skandal-Themen“ von der Regensburger Rede über die Affäre Williamson bis hin zur jetzigen Mißbrauchs-Kampagne. Dabei kam die inhaltliche Linie des Papstes, quasi sein „Regierungsprogramm“ viel zu kurz, obwohl es kein Geheimnis sein dürfte, denn Kardinal Ratzinger hatte seine grundsätzliche Wegweisung schon vor seinem Amtsantritt schlaglichtartig beleuchtet:

Vor ca. 5 Jahren, am 18. April 2005, schlug eine geistige „Bombe“ in die allgemeine Medienlandschaft und den Rest der Welt ein: Joseph Ratzinger, damals Kardinal (einen Tag später war er Papst), wandte sich in einer aufsehenerregenden Predigt im Petersdom glasklar gegen die „Diktatur des Relativismus“.

Mit solch unerbittlichen, geradezu „provokativ“ erscheinenden Worten dem Zeitgeist die Stirne zu bieten, das war selbst für den - von linker Seite gern als „Panzerkardinal“ und „Großinquisitor“ diffamierten - Kardinal Joseph Ratzinger durchaus etwas ungewöhnlich.

Diese Überraschung mag für die „beinharte“ Deutlichkeit der Aussagen gelten, nicht jedoch für ihre grundsätzliche Ausrichtung, denn das theologische „Zauberwort“, gewissermaßen der Zentralbegriff im Denken Joseph Ratzingers kreiste immer schon um die „Wahrheit“ – genauer: die Freude an der Wahrheit.

Dabei konnte sich der geistreiche Denker auf den gewiß noch brillanteren Denker Paulus berufen, denn der Apostel verkündete im vielzitierten Schlußteil seines Briefs an die Korinther: „Die Liebe freut sich an der Wahrheit.“ (1 Kor 13).

Nun kommt der Clou: Die Freude an der Wahrheit letzt logisch voraus, daß es „die Wahrheit“ als solche tatsächlich gibt. Dieses Bestehen auf der „Wahrheit an sich“ stellt ein Gegenprogramm zum „modernen“ Relativismus dar, der jedes Festhalten an einer „objektiven“, unveränderlichen oder gar „absoluten“ Wahrheit“ infragestellt oder gar als „intolerant“ oder „fundamentalistisch“ verteufelt.

„Sollte Gott gesagt haben...?“

Dieser „Relativismus“ ist in Wirklichkeit nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit bzw der „Sündenfall“ von Adam und Eva, dem die skeptische Frage der „Schlange“ vorausging: „Sollte Gott gesagt haben?“ - Für diesen Relativismus steht auch der römische Statthalter Pontius Pilatus mit seiner „kritischen“ Rückfrage an Christus: „Was ist Wahrheit?“

Von diesem kleinen „Ausflug“ in die Heils- bzw Unheils-Geschichte zurück zur kirchlichen Gegenwart:

Nicht von ungefähr veröffentlichte Kardinal Ratzinger 1990 im Echter-Verlag sein Buch „Mitarbeiter der Wahrheit“ – und auch dieser Titel kommt nicht von ungefähr, sondern entstammt wörtlich dem lateinischen, von ihm selbst gewählten bischöflichen Wahlspruch „Cooperatores veritatis“ (auf deutsch: „Mitarbeiter der Wahrheit“). Dieses Leitwort wiederum bezieht sich auf den 3. Johannesbrief (3 Joh 8) im Neuen Testament.

Der Paukenschlag gegen die „Diktatur des Relativismus“, den Kardinal Ratzinger am 18. April 2005 zum Besten gab, fand auch auf protestantischer Seite große Beachtung, wenngleich vielfach in ablehnender Hinsicht - anders hingegen in theologisch konservativen evangelischen Kreisen: Dort überwog die Zustimmung zu diesem zeitkritischen „Signalwort“.

Beispielhaft sei auf den namhaften evangelischen Philosophen Günter Rohrmoser verwiesen, der 2007 eine Publikation mit dem Titel „Diktatur des Relativismus“ veröffentlichte: 2 Jahre nach der betreffenden Ratzinger-Ansprache.

Auch die evangelikale KSSB (Kirchliche Sammlung für Bibel und Bekenntnis) engagierte sich in diesem Sinne, denn ihre Jahrestagung vom 11. bis 13. Juli 2008 in Riederau stellte sie unter das Leitwort: „Was ist Wahrheit?“

Einer der Redner war besagter Prof. Dr. Günter Rohrmoser; der Titel seines Vortrags lautete: „Warum wir die Wahrheit nicht mehr ertragen - Über die Diktatur des Relativismus.“ - Nur 2 Monate später, am 15. September 2008, verstarb dieser bekannte schwäbische Philosoph.

Das Ratzinger-Schlüsselwort fand auch in politischen Kreisen Beachtung. Ein Jahr nach der Papstwahl veröffentlichte die Professorin Janne Haaland Matláry ihr Buch „Veruntreute Menschenrechte - Droht eine Diktatur des Relativismus?’ im Augsburger St-Ulrich-Verlag.

In dem 2006 erschienenen Werk wendet sich die norwegische Spitzenpolitikerin gegen eine (un)geistige Gleichschaltung durch die allgegenwärtige „Political Correctness“. Die 1957 geborene Mutter von vier Kindern, die von 1997 bis 2000 als stellv. Außen-ministerin Norwegens amtierte, ist Mitglied des „Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden“.

In ihrem Sachbuch beleuchtet die Politikwissenschaftlerin anhand zahlreicher Beispiele, wie das Schlagwort von den „Menschenrechten“ heute vielfach manipuliert wird, etwa wenn es als Hebel zur politischen Begünstigung von Minderheiten und zur Zerstörung von Ehe und Familie mißbraucht wird. Die Autorin warnt vor einer zunehmenden „Umwertung“ abendländischer Werte und entlarvt dies als „Diktatur des Relativismus“.

„Eine gefährliche Versuchung“

Auch der kath. Publizist Martin Lohmann, mittlerweile Sprecher des AEK (Arbeitskreis engagierter Katholiken in der CDU), verteidigte vehement die „umstrittene“ Ratzinger-Doktrin von der „Diktatur des Relativismus“ und bezeichnete den Relativismus als „gefährliche Versuchung“.

Im Rahmen der Initiative „Europa für Christus“ fragte er: „Gibt es Wahrheit? Gibt es heute noch Wahrheit? Gibt es gar so etwas wie d i e Wahrheit?“

Lohmanns Antwort: „Allen Unkenrufen zum Trotz sucht sie auch der moderne Mensch. Ja, auch und erst recht der aufgeklärte Mensch des dritten Jahrtausends trägt eine Sehnsucht nach der Wahrheit in sich.“

Der Autor unterscheidet dabei den ideologischen Relativismus von der Tugend der Toleranz und weist darauf hin, daß der Relativismus, der alles für „gleich gültig“ hält, letztlich zur Gleichgültigkeit führt. Die Toleranz hingegen bezieht sich nicht auf eine Verwässerung der Inhalte, sondern auf Personen, auf den zwischenmenschlichen Respekt unter Andersdenkenden:

„Und so dehnt sich der Irrtum aus, dass nur der tolerant ist, der alles für gleich gültig hält und hierbei noch seinen eigenen Standpunkt relativiert. Dabei kommt Toleranz vom lateinischen „tolerare“, was so viel heißt wie „tragen, ertragen“. Von „Relativieren“ ist da nicht die Rede. Im Gegenteil: Tolerant ist der, der den Irrtum seines Nächsten erträgt, ihm aber zugleich nicht verschweigt, dass er einem Irrtum erlegen ist.

Wenn aber alles wahr ist, selbst das Gegenteil, dann ist nichts mehr wahr. Dann gibt es nichts mehr, worauf man sich verlassen kann. Der christliche Denker René Girard weiß: „Wenn es keine objektive Wahrheit gibt, werden alle Wahrheiten gleich behandelt – und das zwingt den Menschen, banal und oberflächlich zu bleiben.“

Konsequenzen für das eigene Leben scheuen, sich nicht festlegen, alles für gültig halten und alles für ungültig – das mag bequem erscheinen. Letztlich ist es aber zutiefst unmenschlich und freiheitsberaubend.... Nur die Verankerung im Guten und Belastbaren öffnet Räume der Freiheit und macht fähig, in allem angstfrei und wirklich tolerant zu sein. Niemand braucht Angst vor Klarheit und Wahrheit zu haben. Wer die Gefahr des Relativismus erkennt, wird erwachsen und im wahrsten Sinn des Wortes aufgeklärt.“

Soviel zur „Wirkungsgeschichte“ des Ratzinger-Wortes von der „Diktatur des Relativismus“ - und nun zur Predigt selbst, jener als „sensationell“ empfundenen Ansprache Ratzingers vor den Kardinälen im Petersdom am 18. April 2005, einen Tag vor seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche:

Vor dem Hochalter stand der Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, der 78-jährige deutsche Theologe Joseph Ratzinger. War er auch gewiß nicht der jüngste, so war er wohl doch der geistreichste unter den Versammelten.

Er predigte über die Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser, worin es im 4. Kapitel heißt: „...daß wir nicht unmündig sein sollen, uns nicht umher-treiben und bewegen lassen von jeglichem Wind der Lehre, die durch Bosheit und Täuschungen von Menschen zustande kommen, womit sie uns einfangen und verführen.“

Kardinal Ratzinger bezeichnete diese biblischen Worte als „sehr aktuell“ und erläuterte sodann seine geistesgeschichtliche Sicht von Kirche und Welt:

„Wie viele Winde der Lehre haben wir in den letzten Jahrzehnten erlebt! Wie viele ideologische Strömungen! Wie viele Moden des Denkens... Das Schifflein des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wellen bewegt worden, umhergeworfen von einem Extrem zum anderen: Vom Marxismus über den Liebe-ralismus bis hin zur Libertinage; vom Kollektivismus zum radikalen Individualis-mus; vom Atheismus zu einer vagen religiösen Mystik; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter.“

Das waren bereits betont zeit(geist)kritische Worte - doch es kam noch „härter“:

„Jeden Tag entstehen neue Sekten - und es verwirklicht sich, was der hl. Paulus über den Betrug der Menschen sagt: über ihre Bosheit, in den Irrtum zu führen. Einen klaren christlichen Glauben gemäß dem Credo (Glaubensbe-kenntnis) der Kirche zu vertreten, wird häufig als „Fundamentalismus“ etikettiert.

Dabei erscheint der Relativismus, das Sich-treiben-lassen hierhin und dorthin von jedwedem Wind der Lehre, als die einzige Haltung auf der Höhe der Zeit. Es bildet sich eine Diktatur des Relativismus heraus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Bedürfnisse gelten läßt.“

„Die Herde Christi führen“

Joseph Ratzinger, der Dekan des Kardinals-Kollegiums, setzte diesem weitver-breiteten Relativismus einen anderen, den soliden christlichen Standpunkt entgegen:

„Reif ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit folgt. Erwachsen und reif ist ein Glaube, der zutiefst verwurzelt ist in der Freundschaft mit Christus; sie gibt uns das Kriterium zur Unterscheidung zwischen wahr und falsch, zwischen Betrug und Wahrheit. Diesen Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen.“

Diese Worte waren offensichtlich mehr als eine fromme Predigt, sie stellten vielmehr eine klare Kampfansage an den modernen Zeitgeist dar – und sie wurden auch so verstanden und daher vielfach bekämpft.

Doch damit nicht genug: Für jene, die sich in bewährter päpstlicher Wortwahl aus-kennen, war diese programmatische Ansprache sogar gewissermaßen eine Art „Wiedererweckung“ des „vorkonziliaren“ kirchlichen Geisteskampfes gegen den „Modernismus“.

Dieser Kampf ist vor allem mit dem Namen von Papst Pius X. verknüpft, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen den theologischen „Modernismus“ der damaligen Zeit wandte. Dieser Modernismus offenbarte sich vor allem in der Leugnung zentraler Glaubenslehren und in der aufkommenden „Bibelkritik“, vor allem in der Infragestellung der in der Heiligen Schrift bezeugten göttlichen Wunder.

Mit der Enzyklika (dem päpstlichen Weltrundschreiben) „Pascendi“ vom September 1907 sorgte Pius X. für erhebliche Aufregung, weil er darin glasklar zahlreiche philoso-phische und theologische Irrtümer der Neuzeit verurteilte. Die Anfangsworte der Enzyklika „Pascendi dominici gregis“ (auf deutsch: „Die Herde des Herrn leiten“) gaben dem päpstlichen Rundschreiben seinen Namen „Pascendi“.

Mit genau diesen Worten „Die Herde Christi leiten“ beendete Kardinal Joseph Ratzinger seine Ansprache vor den versammelten Kardinälen, denen die geistig-theologische Brisanz seiner Ausführungen kaum entgangen sein dürfte. Am nächsten Tag wurde der Prediger zum Papst gewählt und nannte sich fortan Benedikt XVI.