Dienstag, 1. Dezember 2009

Dokumentation: Benedikt XVI.: Die EU soll sich auf die christlichen Wurzeln besinnen (Ausz)


Sie, Herr Botschafter, haben soeben die Wirklichkeit der Europäischen Union als »einen Raum des Friedens und der Stabilität« bezeichnet, »der 27 Staaten vereint, die auf dieselben Grundwerte bauen«. Das ist eine gelungene Definition. Es ist jedoch richtig zu betonen, daß sich die Europäische Union diese Werte nicht selbst gegeben hat, sondern daß es vielmehr diese gemeinsamen Werte sind, die diese Union überhaupt erst haben entstehen lassen und die gleichsam die Gravitationskraft für die verschiedenen Nationen darstellten, die sich dann im Laufe der Zeit dem Kern der Gründerländer angeschlossen haben. Diese Werte sind Frucht einer langen und verwickelten Geschichte, in der – was keiner leugnen wird – das Christentum eine herausragende Rolle gespielt hat. Die gleiche Würde aller Menschen, die Freiheit des Glaubensaktes als Wurzel aller anderen bürgerlichen Freiheiten, der Friede als entscheidendes Element des Gemeinwohls, die menschliche Entwicklung – in intellektueller, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht – als göttliche Berufung (vgl. Caritas in veritate, 16–19) und der sich daraus ableitende Sinn der Geschichte sind weitere zentrale Elemente der christlichen Offenbarung, die die europäische Zivilisation bis in die heutige Zeit prägen.

Wenn die Kirche an die christlichen Wurzeln Europas erinnert, tut sie das nicht, weil sie für sich selbst eine privilegierte Stellung anstreben möchte. Sie will historische Gedächtnisarbeit leisten, indem sie zunächst an eine – zunehmend in Vergessenheit geratene – Wahrheit erinnert, nämlich an die entschieden christliche Inspiration der Gründungsväter der Europäischen Union. Tiefergehend möchte sie auch zum Ausdruck bringen, daß die Grundlage der Werte vor allem aus dem christlichen Erbe stammt, das sie noch heute nach wie vor nährt.

Diese gemeinsamen Werte sind keine planlose oder zufällige Ansammlung, sondern bilden ein zusammenhängendes Ganzes, das historisch von einem klaren Menschenbild her geordnet und gegliedert ist. Kann Europa das ursprüngliche organische Prinzip dieser Werte vergessen, das den Menschen seine herausragende Würde und zugleich die Tatsache erkennen ließ, daß seine persönliche Berufung ihn für alle anderen Menschen offen macht, mit denen zusammen er berufen ist, eine einzige Familie zu bilden? Diesem Vergessen nachzugeben – hieße das nicht, sich der Gefahr auszusetzen, mitanzusehen, wie diese großen und schönen Werte in Konkurrenz oder in Konflikt zueinander treten? Oder aber, daß sie Gefahr laufen, von einzelnen und Gruppen instrumentalisiert zu werden, die Druck ausüben, um Sonderinteressen durchzusetzen – zum Schaden eines von den Europäern erwarteten, gemeinsamen und ehrgeizigen Projekts für den Kontinent und unsere ganze Welt? Diese Gefahr ist bereits von zahlreichen Beobachtern, die ganz verschiedenen Bereichen angehören, wahrgenommen und angeprangert worden. Es ist wichtig, daß Europa nicht zuläßt, daß sich sein Zivilisationsmodell Stück für Stück auflöst. Sein ursprünglicher Elan darf nicht vom Individualismus oder vom Zweckdenken erstickt werden.

Die immensen intellektuellen, kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen des Kontinents werden weiterhin Früchte tragen, wenn sie von der transzendenten Sicht der menschlichen Person befruchtet werden, die den wertvollsten Schatz des europäischen Erbes bildet. Diese humanistische Tradition, in der sich viele, mitunter sehr unterschiedliche Denkrichtungen wiedererkennen, befähigt Europa dazu, sich den Herausforderungen von morgen zu stellen und auf die Erwartungen der Bevölkerung zu antworten. Es handelt sich vor allem um das Suchen nach dem richtigen und delikaten Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen Effizienz und den sozialen Erfordernissen, dem Schutz der Umwelt und vor allem der unverzichtbaren und notwendigen Unterstützung für das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod und für die auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründete Familie. Europa wird nur dann wirklich es selbst sein, wenn es seine Ursprünglichkeit zu bewahren versteht, die seine Größe ausmacht und imstande ist, Europa auch in der Zukunft zu einem der Hauptakteure bei der Förderung der ganzheitlichen Entwicklung der Menschen zu machen, die die Kirche als den einzigen Weg ansieht, der die in unserer Welt vorhandenen Störungen zu heilen vermag.

Quelle: An Herrn Yves Gazzo, Vertreter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften beim Hl. Stuhl. Montag, 19. Oktober 2009